07.02.2007 - Talent Management — neue Herausforderung des HR-Managements?
Ist "Talent Management" mehr als ein modischer Geisterbegriff?
Talent Management wird zu einem in der letzten Zeit häufiger auftauchenden Begriff. Vielen erscheint er neu, obwohl bereits mehr als eine Dekade in Fachkreisen gebräuchlich. Aktualität erfährt das Thema Talent Management durch den inzwischen weltweit erkennbaren Mangel an "Talenten", fähigen Mitarbeitern also, die zur strategischen Ressource der Unternehmen gehören.
Das Thema ist so brisant, dass es der Zeitschrift "The Economist" (October 7th — 13th 2006) einen interessanten und immerhin 15-seitigen Sonderbeitrag mit mehreren Artikeln unter dem Titel "The search for talent" wert war. Darauf stützen sich die folgenden Ausführungen in vielen Punkten.
Eine international angelegte Umfrage bei erfahrenen Personalmanagern ergab, dass
- 75% das Gewinnen und Halten fähiger Mitarbeiter als ihre wichtigste Aufgabe einstuften
- immerhin 62% in ihrem Unternehmen einen Mangel an "talentierten" Mitarbeitern mit Potenzial beklagen.
Weiterhin wird eine seit 2004 absinkende Qualität der Bewerber bei Einstellungen konstatiert und festgestellt, dass die Besetzung freier Stellen gegenüber 2004 heute durchschnittlich 14 Tage länger dauere.
Talent Management — wie lautet die Definition für diese Talente, die so von den Personalchefs gesucht und umworben sind ("search for talent")? Es handelt sich um Mitarbeiter, denen man zutraut, kontinuierlich komplexer werdende Probleme zu lösen und neue innovative Lösungen zu (er-)finden. Es stellt sich die Frage, ob nun nach dem Ausreizen der Produktivitätssteigerungen durch Re-Engineering die nächste Welle der Produktivitätsverbesserung durch besseres Management der Talente eines Unternehmens ansteht.
Je nach Standpunkt sehen einige dann eher den klassischen High Potential Mitarbeiter vor Augen, andere denken an ganze Belegschaften, die klug zusammengesetzt, eingesetzt und gefördert im Sinne eines "Lernenden Unternehmens" agieren. Eine einheitliche Vorstellung, was Talent ausmacht, wird es in einem komplexen, international geprägten Wirtschaftssystem nicht geben.
Die Vielfalt an betrieblichen Realitäten und beruflichen Herausforderungen führt zwangsläufig zu vielfältigen Interpretationen, was denn Talente und besondere Fähigkeiten in einem konkreten betrieblichen Kontext jeweils sind. Als wacher Beobachter, der ständig unterschiedliche Unternehmen und deren Belegschaften erlebt, bin ich von eben dieser Unterschiedlichkeit und den jeweiligen Ergebnissen immer wieder beeindruckt.
Meine Erkenntnis ist, dass formale Qualifizierung ein Asset darstellt, aber für sich noch nicht den Mehrwert macht.
Im Gegenteil: Selbst Unternehmen mit einem vergleichsweise geringen Qualifizierungsdurchschnitt können mit ihren Mitarbeitern hervorragende, ja überwältigende Ergebnisse erzielen: Wenn sie es schaffen, einen Geist von Lernen und Leistungswillen zu erzeugen, der dazu führt, dass die Mitarbeiter kollektiv eine Fähigkeit entwickeln, die das ganze Unternehmen unschlagbar macht. Das ist noch nicht allzu oft anzutreffen — aber eben doch mögliche und immer wieder sichtbare Realität.
Dass die forcierte Suche und Platzierung ausgewählter Geistestalente dagegen allein keine Garantie für Erfolg ist, zeigen Beispiele wie Enron und weiterer Unternehmen, die viel Aufwand betrieben, die jeweils Besten zu gewinnen. Dennoch stand am Ende ein grandioses Scheitern.
Dies obwohl z.B. Long Term Capital Management sogar mehrere Nobelpreisträger unter Vertrag hatte. Am Ende steht nun die Erkenntnis, dass die Bevorzugung von Potential gegenüber Erfahrung ein fatales Ende zumindest nicht verhindert hatte.
Unbestreitbar ist jedoch das Problem: Die Unternehmen benötigen weltweit(!) bereits heute dringend bestens qualifizierte und fähige Mitarbeiter. Es wird, teils ist dies bereits Realität, über nationale ja kontinentale Grenzen hinweg zu einem erheblichen Engpass an fähigen Mitarbeitern und Führungskräften kommen.
Nachdem inzwischen in Länder wie China und Indien nicht nur einfache sondern zusehends auch anspruchsvolle Tätigkeiten verlagert werden, ist die berufliche Geisteselite auch dort bereits eine heftig umworbene Zielgruppe.
Mit der Knappheit verbunden sind einige Probleme und Herausforderungen für das Management:
- Mitarbeiter, bei denen es in besonderem Maße auf geistige Fähigkeiten, Problemlösungsfähigkeit und kreatives Arbeiten ankommt, reagieren besonders sensibel für alle Arten von Verletzungen des Selbstwertgefühls — wodurch auch immer dies ausgelöst ist, ob durch schlechte Führung oder den Verstoß gegen ethische Standards
- Die geistigen Ressourcen bestimmen immer mehr über den Erfolg eines Unternehmens. McKinsey unterscheidet 3 Arbeitsplatz-Kategorien:
- "transformational": Rohmaterialien gewinnen oder daraus fertige Produkte erstellen
- "transactional": Austauschprozesse und Vorgänge, die einfach standardisiert oder automatisiert werden können
- "tacit": Komplexe Vorgänge, die hohes Urteilsvermögen erfordern
Der Arbeitsmarkt in der 3. Kategorie ist in den letzten 6 Jahren in den USA 2,5 - fach gegenüber dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewachsen.
- Die demographische Entwicklung verschärft den Engpass bei der begehrten Ressource zusätzlich.
- Die Loyalität der Mitarbeiter hat nach vielen Downsizingwellen in Folge enorm abgenommen. Der alte Vertrag Jobsicherheit gegen Commitment und Loyalität bröckelt. Dies gilt auch für die Geisteselite.
- Mitarbeiter aus der Gruppe der Hochleister legen besonderen Wert auf ein stimulierendes betriebliches Umfeld. "Könner" schätzen es, unter Ihresgleichen zu sein, weil sie die geistige Herausforderung als Stimulans zur Weiterentwicklung suchen.
- Belegschaften sind immer weniger standardisiert - "Diversity" ist in vielfältiger Hinsicht ein Thema. Dies gilt bereits für unterschiedlichste Formen an Beschäftigungsverhältnissen und vertragliche Ausgestaltungen und es gilt umso mehr im transnationalen Kontext.
Das Gewinnen, Halten und Entwickeln qualifizierter und talentierter Mitarbeiter wird vermutlich die Herausforderung im Human Resource Management der nächsten 10 Jahre sein. Diese "Arbeitskräfteelite" — das sind nicht nur ein paar "High Pots", das kann eine ganze Belegschaft sein, zumindest ein relevanter Teil davon — wird zur entscheidenden Ressource im Wettbewerb der Unternehmen.
Identifikation, Auswahl und Einstellung der Besten verbunden mit deren systematischer Entwicklung wird daher zu einem Schlüsselthema des Unternehmenserfolgs. Die Entwicklung der geistigen Potentiale erfordert das Design und die Umsetzung von Lern- und Entwicklungsarchitekturen, die die Weiterentwicklung ganzer Unternehmenssysteme befördern. Personalentwicklung wird dazu in neuen Kategorien denken müssen.
Das Ringen um die Richtigen und Fähigen ist keine Zukunftsmusik. In vielen Unternehmen bestimmt es die Diskussion im Management, denn in manchen Unternehmen ist das Wachstum bereits durch den Mangel an fähigen Leuten beeinträchtigt - das erlebe ich zunehmend öfter als Thema in Beratungskontakten.
Management, HR und Personalentwicklung sind gezwungen, an kreativen Lösungen für die Zukunft zu arbeiten, um sich im Wettbewerb um die knapp werdenden geistigen Ressourcen zu positionieren: Talent Management ist ein Schlüsselthema.
Literaturhinweise:
- „The search for talent“ in: „The Economist“, October 7th — 13th 2006
- Dytchwald, K., Erickson, T.J., Morison, R., Workforce Crisis, Harvard Business School, 2006
- Sadler, P., Talent Management, Frankfurt 1995
Weitere Artikel zu Talent Management auf dieser Homepage:
- War for talents - bei Frauen schon verloren?
- Change Management - mit "normaler" Belegschaft zur Spitzenleistung
Und am Ende ein Zitat:
"Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehn vermögen."
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 504)