27.06.2009 - Systemische Beratung zunehmend in der Kritik - Wirkung bitte statt Geschwafel!
Ansätze der sog. systemischen Schule aus Beratung, Training und Coaching scheinen sich einer Legitimationskrise zu nähern und zunehmend infrage gestellt. Diesen Eindruck nähren sich häufende kritische Kundenäußerungen sowie Ausführungen in der Change Management Studie 2008 von CapGemini Consulting, wo man explizit vom "Abschwung der systemischen Beratung" spricht.
Ich habe mich in der Vergangenheit kritisch (Peterke J., Handbuch Personalentwicklung, 2006) zur systemischen Schule geäußert, ohne die Kritik hier im Einzelnen aufgreifen oder vertiefen zu wollen — im übrigen ein durchaus anregender Gedanke, dies bei Gelegenheit einmal fundiert nachzuholen. (Inzwischen gibt´s dazu ein Buch: Viktor Lau, Schwarzbuch Personalentwicklung, 2013).
Hier in aller Kürze einige problematische aber auch positive Punkte, die ich mit dem systemischen Ansatz verbinde:
- Am meisten mit Vorbehalt erfüllt mich der explizit erhobene Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Ansätzen. Tatsächlich ist empirisch nirgendwo belegt, dass der systemische Ansatz bessere Ergebnisse zeitigt als andere Formen der Beratung. Liest man die systemische Literatur aufmerksam, so leuchtet dies an einigen Stellen auch durch, wird dort aber umgedeutet in Unzulänglichkeiten und überhöhte Erwartungen des Managements. Zur sich selbst überhöhenden Inszenierung passt denn auch diese Leitbildaussage eines systemischen Instituts: "... Wir integrieren wie keine andere Beratung harte und weiche Faktoren so gekonnt, konsequent und wirkungsvoll, dass...". Da bleibt nur Schmunzeln.
Es wird gern von einer systemischen Theorie gesprochen, die de facto so nicht existiert — es handelt sich vielmehr um Konzepte, von verschiedenen Theoretikern zusammengeklaubt (was ja legitim ist), die wissenschaftlich keineswegs abgesichert sind und z.T. auf axiomatischer Grundlage beruhen.
Oswald Neuberger, namhafter Organisationspsychologe an der Universität Augsburg, stellt fest, dass die Terminologie der "systemischen" Organisationsberatung die Züge einer geheimbündlerischen Kunstsprache aufweise.
So spricht er davon, "...dass es nicht wirklich die System-Theorie ist, sondern `nur´ die System-Sprache, mit der gearbeitet wird. Man kann geradezu von Beraterlatein reden, das eine ähnliche Funktion hat wie früher das Latein in der katholischen Kirche. Es wurde als eine Geheim- und Hochsprache gebraucht, die das Volk zwar nicht verstand, aber ehrfürchtig schaudernd vernahm, und mit der auch Gewöhnliches zum Besonderen und Feierlich-Außeralltäglichen verklärt wurde. In dieser Aura konnten die Priester das gemeine Volk auf Distanz und die Heilige Schrift als Buch der Offenbarung privilegiert und monopolistisch auslegen. In ähnlicher Weise verleiht der systemische Jargon dem Üblichen eine besondere Note, auch wenn er zum Anglerlatein degeneriert, mit dem der Berater auf Kundenfang kleine Fische zur großen Beute umbenenne und sich damit wichtig macht"1).
- Die theoretische Grundlage der Systemiker, es handele sich bei aller Wahrnehmung um eine Wirklichkeitskonstruktion, der man als Theorie ja zustimmen mag, impliziert mehrere problematische Folgen: Sie führt weg vom konkreten Erleben der unternehmerischen Wirklichkeit hin zu abstrakten Annahmen und Diskussionen und unterbricht den direkten Kontakt zur Realität (ein Konstrukt, gewiss) und deren Bewertung. Implizit enthalten ist eine Metahaltung, die in Change Management Prozessen zu manipulativen Tendenzen (Teamleiter: "... da haben sie dann wieder so Change Spielchen gemacht, aber damit kann man mich nicht mehr fangen...") führt.
In der betrieblichen Praxis des Change Management können viele methodische systemische Interventionen nicht überzeugen und Berater und Trainer mit zu einseitig psychologischem Background und mangelnder betrieblicher und Führungserfahrung auch nicht. Die methodische Kompetenz ist dank aufwändiger systemischer Beraterausbildung schon da, allein es fehlt nicht selten die Managementkompetenz zur Unterstützung der Führungskräfte in Fragen der Veränderung des Managementsystems und der fachlichen Seite im Prozess des Change Management. Da ist dann schon auch kompetente fachliche Positionierung des Beraters gefragt und nicht der elegante Abschwung in die Metaposition der Beratung oder der Einstieg in zirkuläres Fragen. Und die persönliche Komponente des Kontakts zu den Menschen erscheint ja systemisch ohnehin verdächtig - sie ist aber die entscheidende Basis.
Positiv sind zu nennen:
- Die systematische Perspektivenerweiterung sowie viele handwerklich praktische und methodische Aspekte.
Die Betrachtung aller relevanter Variablen innerhalb und außerhalb einer Organisation (des Kontexts des "Systems") und die Bedeutung von differenzierten Interventionsarchitekturen, um systematisch eine Vielzahl unterschiedlicher und sich gegenseitig beeinflussender Impulse zur Veränderung einer komplexen Organisation zu setzen.
- Die Betonung von Rückkoppelungsmechanismen (Feedback) in ihrer Bedeutung für Veränderung und Entwicklung von Organisationen. Allerdings hat dies die amerikanisch geprägte OD-Schule schon vor Jahrzehnten zum Thema gemacht und auch entsprechende Instrumente geschaffen.
Die systemischen Konzepte haben die Beratungslandschaft durchaus befruchtet, so dass heute kaum ein Profi um den Ansatz und zumindest die Integration von Teilen des systemischen Modells in seine Arbeit herum kommt (am Ende bin ich selbst ein Systemiker - und wer nicht sonst noch alles?).
Aber es gibt auch viel Marketinggeschrei und Anmaßung. Manche Abgrenzung, Inszenierung und Selbstüberhöhung des systemischen Zirkus trägt schon sektiererische Züge. So wenn über Initiationsriten, verbrämt mit dem Habitus des Bemühens um Professionalität, fragwürdige Eintrittsbarrieren zu professionellen Rollen wie Trainer, Berater, Coaches errichtet werden, stets verbunden mit einem lohnenden Geschäftsmodell.
Wer legitimiert eigentlich diese Zertifizierer, wer garantiert deren Professionalität? Ich kenne etliche, die fachlich oder persönlich zumindest Fragezeichen aufwerfen - und die doch recht geschützt sind durch eine "systemisch" bestens strukturierte neue professionelle Hierarchie, wo man sich gegenseitig zuspielt. Immerhin wird da ein neues Standesdenken etabliert mitten im 21. Jahrhundert, schon etwas makaber.
Sichtbar werden auch vielfach gedankenloses oder eiferndes Mitläufertum, Ehrenkäsigkeit und Moralisierendes - "... was, Sie waren nicht auf der XY-Konferenz von ..." wurde ich mit kritischem Unterton von einem systemisch geeichten Konzern-PE-ler gefragt.
Nicht selten wird "SYSTEMISCH" schlicht als Berater-Buzzwort benutzt - Erklärung erübrigt sich doch, wenn man das Zauberwort ausspricht, oder?
Vielleicht sollte man sich wieder darauf besinnen, dass Vielfalt noch immer die beste Voraussetzung für Entwicklung ist. Dies gälte es bei der methodischen Zusammensetzung von HR-/PE-Staffs berücksichtigen wie auch bei der Zusammenstellung der eigenen Ausbildungspfade als Berater und Coach - wo einem zudem "a bisserl betriebliche Praxis" in den normalen Themen des Geschäfts ja eigentlich nie schadet.
Nachsatz: ... und nun werdet Ihr mich wieder ansprechen, liebe KollegInnen, wie ich das denn meine: Prima, dann sind wir im Diskurs!
Und man darf doch auch die systemische Beratung kritisch beleuchten - oder doch nicht? Eine interne Kollegin, Personalchefin eines größeren Unternehmens, wurde von einer systemischen Beraterin kritisiert, wie sie denn mit jemandem wie mir kooperieren könne, der die systemische Beratung so kritisch sieht. Klingt nach Glaubenskrieg - sind wir wirklich so kleinmütig?