04.12.2003 - Überdosierung an Beratung? Auf die Selbstheilungskräfte des Unternehmens setzen!
Beratung soll die Selbstheilungs- und die Entwicklungskräfte einer Organisation mobilisieren – so könnte man eine Zielsetzung moderner Beratungsansätze umreißen.
Je mehr Problemlösung als interne Leistung erfolgt, desto besser. Dies fördert Lernen in der Organisation und einen Zuwachs an Kompetenz im Unternehmen. Die Rolle des Beraters ist dabei eher die des konstruktiv kritischen Lernbegleiters, der sein Know-how dosiert so zur Verfügung stellt, dass die Beteiligten im Unternehmen den nächsten Schritt der Weiterentwicklung des Unternehmens möglichst erfolgreich bewältigen.
Dies erfordert ein gutes Verständnis für die Menschen und deren Organisation, eine richtige Diagnose, das richtige Medikament zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Dosierung - in der Sprache der Medizin gesprochen.
Versteht man Beratung als Prozessberatung, so ist diese Beschreibung noch zu präzisieren dadurch, dass nicht der Berater diagnostiziert und therapiert (zumindest nicht er allein), sondern dass er vielmehr die Selbstdiagnose und die Selbstmedikation im Unternehmen anregen und unterstützen soll. Seine Erfahrung fließt dabei als eine Einflussgröße in den Prozess mit ein, der in der Verantwortung des jeweiligen Unternehmens liegt. Dieses Vorgehen allein macht auch deutlich, dass da dann keine Heerscharen von Unternehmensberatern aktiv sein können.
Es löste für den unvoreingenommenen Beobachter immer wieder Verwunderung aus, mit welch enormem Aufwand an externer Unterstützung Prozesse des Unternehmenswandels in den vergangenen Jahren vielfach vollzogen wurden. Dies gilt keineswegs nur für die sogenannte klassische Unternehmensberatung. Auch einige modernere Ansätze, die stark partizipationsorientiert sind, neigen zu Übertreibungen. Im Namen des durchaus begrüßenswerten Beteiligungsansatzes werden wahre Workshopstaffetten gestartet, gleichsam in der Annahme, nur in Workshops und unter der Regie von erfahrenen Moderatoren kämen die Menschen zu neuen Erfahrungen und zu einem neuen Bewusstsein.
Die Krise der Beraterzunft – wie sie jüngst zumindest in den Medien dargestellt wird – ist insofern vielleicht auch Ergebnis einer Erkenntnis vieler Unternehmen, dass sie ohne die Beratermedikation oder zumindest mit geringerer Dosierung gar nicht so schlecht zurande kommen. Manchmal stellt der Patient ja fest, dass zuviel Pillen der Gesundheit auch abträglich sind.
In mittelständischen Unternehmen ist die Beratergläubigkeit aus vielerlei Gründen ja noch nie so ausgeprägt gewesen. Dort zählt nur, was wirklich etwas bewirkt – und das mit geringst möglichem Aufwand an Ressourcen. Vielfach probierte man lieber pragmatisch aus, als teure Beraterkonzepte einzukaufen, die schön klangen aber an der Realität des konkreten Unternehmens vorbei gingen.
Nun ist es ja keineswegs so, dass mittelständische Unternehmen nicht ihrerseits markante Veränderungen erfolgreich bewältigt hätten, gerade auch in den letzten Jahren. Dennoch gilt dort auch bei großen Veränderungen, dass Ressourcen zur Unterstützung des Vorhabens nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen - intern wie extern.
Da die Veränderung dennoch voran getrieben werden muss, kommt es entscheidend darauf an, die verfügbaren Mittel an der richtigen Stelle einzusetzen. Das Prinzip der Hebelwirkung bekommt damit im Veränderungsgeschehen eine ganz entscheidende Bedeutung. Das muss man als externer Berater in der Anlage des Beratungsprozesses berücksichtigen, will man nicht scheitern.
In einem interessanten Aufsatz in der amerikanischen Harvard Business Review greifen zwei Autoren das Thema auf. Sie sprechen von "Tipping Point Leadership" und bezeichnen damit ein Vorgehen, das Veränderungen angesichts schwacher Ressourcen voranbringen soll.
Neben Hinweisen, die durchaus auch in anderen Veröffentlichungen zu Change Management anzutreffen sind, stellen sie in ihrem vierstufigen Vorgehen die Bedeutung sog. "hot spots" heraus. Dabei geht es darum, durch gründliche Analyse jene Stellen im Unternehmen zu identifizieren, bei denen ein Wandel besonders bedeutsam ist und auch die größte Wirkung zeitigt.
Ein weiterer wichtiger Fokus beim Vorgehen liegt darin, ausgewählte Zielgruppen und einzelne Schlüsselpersonen systematisch zu Trägern und Multiplikatoren der Veränderung zu machen anstatt flächendeckende und daher aufwändige Bearbeitung der Haltung möglichst vieler Führungskräfte und Mitarbeiter im Unternehmen anzustreben.
Der lesenswerte Artikel erschien in:Kim, W.C., Mauborgne, R., Tipping Point Leadership, Harvard Business Review, Heft 4/2003